Die Gendermedizin, auch geschlechtsspezifische oder geschlechtersensible Medizin genannt, konzentriert sich auf die geschlechtsspezifische Erforschung und Behandlung von Krankheiten. Frauen und Männer haben vielfach unterschiedliche Risikofaktoren für die Entstehung und den Verlauf von Krankheiten sowie für Behandlungsrisiken. Hinzu kommt eine soziale Komponente: Sie nehmen Präventionsangebote unterschiedlich wahr. Ziel der Gendermedizin ist es, die Berücksichtigung biologischer Unterschiede in der Medizin stärker zu etablieren und somit die Versorgung zu verbessern – für Männer und Frauen.
Wirkungen und Nebenwirkungen bei Frauen stärker
Bislang liegen noch nicht genügend detaillierte Informationen vor, um sicher sagen zu können, wo Ärztinnen und Ärzte das Geschlecht beachten müssen und wo nicht. Früher wurden Frauen wegen möglicher Schwangerschaften weitgehend von der Medikamentenentwicklung ausgeschlossen. Heute werden geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Erforschung und Entwicklung neuer Arzneimittel und Therapien stärker berücksichtigt. Im Allgemeinen treten bei Frauen, die Arzneimittel nehmen, mehr Nebenwirkungen auf als bei Männern. Dafür sind aber auch die erwünschten Wirkungen oft deutlicher ausgeprägt. Dies hängt vom unterschiedlichen Stoffwechsel in Leber und Darm sowie von der unterschiedlichen Zusammensetzung und Verteilung von Fett, Muskeln und Wasser im Körper ab.
2004 wurde die EG-Richtlinie zur Harmonisierung klinischer Prüfungen in deutsches Recht umgesetzt. Im Zuge dessen wurde im 12. Änderungsgesetz zum Arzneimittelgesetz verankert, dass die vorgelegten Unterlagen zur klinischen Prüfung auch geeignet sein müssen, „den Nachweis der Unbedenklichkeit oder Wirksamkeit eines Arzneimittels einschließlich einer unterschiedlichen Wirkungsweise bei Frauen und Männern zu erbringen“. Ende 2021 tritt voraussichtlich die neue EU-weit geltende Verordnung zu klinischen Prüfungen in Kraft. Diese sieht vor, dass im Genehmigungsantrag für eine klinische Prüfung angegeben sein muss, „ob die Gruppen der an der klinischen Prüfung teilnehmenden Prüfungsteilnehmer die zu behandelnden Bevölkerungsgruppen abbilden“. Falls dies nicht der Fall ist, muss hierfür eine Begründung erfolgen.
Dosierung von Arzneimitteln anpassen?
Der Verband Forschender Arzneimittelhersteller (vfa) schreibt in einem Positionspapier, dass alle bisherigen Studien gezeigt hätten, dass es zwar statistische Geschlechtsunterschiede in der Konzentration von Wirkstoffen im Blut und in ihrer Verweildauer im Körper gebe, diese aber in aller Regel keine praktischen Konsequenzen für die Dosierungsvorschriften der Arzneimittel hätten. Die meisten Medikamente seien so entwickelt, dass ein günstiges Verhältnis von Wirksamkeit und Nebenwirkungen nicht nur beim exakten Erreichen einer Zieldosis, sondern innerhalb eines breiten Dosiskorridors (einem „therapeutischen Fenster“, wie Pharmakologen sagen) erreicht werde. „Das ermöglicht, dass Patienten trotz der genannten individuellen Unterschiede mit Tabletten (Kapseln etc.) der gleichen Wirkstärke behandelt werden können“, so der vfa. Prof. Dr. med. Sabine Oertelt-Prigione, Leiterin der Arbeitsgruppe „Geschlechtersensible Medizin“ an der Uni Bielefeld, ist hingegen der Ansicht, dass noch viele Themen zu geschlechtsspezifischen Unterschieden unerforscht seien. Sie fordert, „Studien von vornherein so zu designen, dass der mögliche Einflussfaktor ‚Geschlecht‘ mit untersucht wird und zum Beispiel Nebenwirkungen getrennt aufgeführt werden. Das ist heute noch nicht selbstverständlich, wäre für den Arzt, der eine Therapie auswählt, aber wichtig.“
vfa-Positionspapier "Berücksichtigung von Frauen und Männern bei der Arzneimittelforschung"
Interview mit Prof. Dr. med. Sabine Oertelt-Prigione