Ausgabe 01/2018 ·

Streit um CI: Klinik erwirkt Verfahren gegen Eltern eines gehörlosen Kindes

Junges Paar auf einem Sofa im Gespräch
Die Eltern des gehörlosen Jungen: "Wir sind doch eine ganz normale Familie." BR

Ein Kind kommt gehörlos zur Welt. Der behandelnde HNO-Arzt empfiehlt ein Cochlea-Implantat, doch die Eltern des heute zweijährigen Jungen sind dagegen. Weil die Klinik das Jugendamt einschaltet, landet der Fall vor Gericht: Wird das Kindeswohl vernachlässigt, wenn auf die empfohlene Operation verzichtet wird? Der Streit wirft grundsätzliche Fragen auf.

Seit Monaten streiten Mediziner, Juristen, Behörden und die Eltern, wie mit der Gehörlosigkeit eines Kindes umgegangen werden soll. Die Geschichte beginnt kurz nach der Geburt vor rund zwei Jahren. Das Ergebnis des Neugeborenen-Hörscreenings fällt nicht eindeutig aus. Auch eine zweite Untersuchung wenige Monate später bringt kein klares Ergebnis. Im Sommer 2017 fahren die Eltern mit ihrem Kind in die HNO-Klinik in Braunschweig. Der Junge soll in die Kinderkrippe kommen. Mit dem Ergebnis eines weiteren Hörtests wollen sie ein Hörgerät bei der Krankenkasse beantragen. Nach verschiedenen Untersuchungen steht der Befund fest: Das Kind ist gehörlos. Die behandelnde Oberärztin rät zur Implantation einer Hörprothese.

Weder behindert noch krank

Die Eltern des Jungen sind selbst gehörlos bzw. stark hörgeschädigt, ebenso seine Geschwister. Für die Familie ist der Junge weder behindert noch krank. Den ärztlichen Rat zur Operation lehnen sie ab. Daran ändert auch ein Schreiben des Chefarztes der HNO-Klinik nichts. Er fordert die Eltern dringend zu einem weiteren Beratungsgespräch sowie zu Voruntersuchungen für die CI-Versorgung ihres Kindes auf. Der Arzt weist daraufhin, dass die Hörstörung durch ein Implantat geheilt werden kann. Mit einem Nein der Eltern will sich der Klinikchef nicht abgeben. Mit Verweis auf den Schutz des Kindes warnt er die Eltern, bei einer erneuten Ablehnung der Beratung, die Behörden einzuschalten.

Die Eltern lassen den Termin verstreichen. Für sie kommt eine Hörprothese nicht in Frage. Als Gehörlöse wissen sie, was ein Cochlea-Implantat ist und wie sie funktioniert. Weitere Gespräche mit dem Krankenhaus sind aus ihrer Sicht nicht nötig. Ihre Ablehnung einer CI-Operation steht fest. Das Krankenhaus macht seine Ankündigung war und informiert das Jugendamt in Goslar.

Jugendamt befürchtet Einschränkungen

Als das Amt die gehörlose Familie zuhause besucht, versucht die Mutter dem Mitarbeiter zu erklären, dass sie ihre Gehörlosigkeit nicht als Handicap empfindet. Das gelte auch für ihre Familie: „Wir haben unsere Gehörlosenkultur und wir haben alle Möglichkeiten. Es ist doch alles normal. Wir sind doch eine ganz normale Familie“, schildert die Mutter den Besuch im BR-Fernsehen. Ihr Sohn könne sich immer noch für ein CI entscheiden, wenn er 18 Jahre alt sei. Dieser Argumentation mag das Jugendamt nicht folgen. Neben der „sehr radikalen Haltung“ der Eltern müsse man das Kind im Auge behalten. Wenn es gehörlos aufwächst, habe es möglicherweise später Einschränkungen in der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft, so Frank Dreßler vom Jugendamt.

Der Fall wird an das Amtsgericht Goslar weitergeleitet. Mit dem Vorgang ist auch eine Überprüfung des Sorgerechts der Eltern verbunden. Für den Gehörlosenverband Niedersachsen überschreiten die Behörden damit eine Grenze: „Wir verurteilen aufs Schärfste, dass das Taubsein in Deutschland […] in so negativer Weise behandelt wird“, heißt es in einer Stellungnahme des Verbandes. Das Spektrum der Lebenswelt tauber und schwerhöriger Menschen sei in Deutschland groß. Gebärdensprache und bilinguale Förderung ermöglichen ein selbstständiges Leben. Das Verfahren müsse daher sofort eingestellt, der psychische Druck auf die Eltern unterlassen werden, so der Gehörlosenbund.

CI-Versorgung erfordert positive Grundhaltung

Auch die Deutsche Cochlea Implantat Gesellschaft e.V. (DCIG) lehnt eine CI-Implantation ohne die Zustimmung der Eltern strikt ab. Für eine erfolgreiche CI-Versorgung sei eine positive Grundhaltung der Eltern gegenüber der Implantation und ihren Folgen zwingend erforderlich. „Es wird hoffentlich niemand so weit gehen, das Kind zwangsweise aus der Familie herauszunehmen und in ein Heim oder in eine Pflegefamilie zu geben“, so die DCIG. Die Traumatisierung des Kindes wäre in keinem Fall zu rechtfertigen. 

Für die Eltern sprechen auch praktische Gründe gegen eine CI-Versorgung ihres Sohnes. Gegenüber dem Norddeutschen Rundfunk erklärt die Mutter: „Als Gehörlose kann ich ihm das Sprechen sowieso nicht beibringen. Ich kann nicht kontrollieren, welche Stimmlagen er produziert.“ Das sieht auch Karin Kestner so. Die Dolmetscherin für Gebärdensprache engagiert sich für die gehörlose Familie. Ein Zwang zu einem CI sei völlig kontraproduktiv bei gehörlosen Eltern. Sie können ihre Kinder im Erwerb der Lautsprache nicht unterstützen. Außerdem werde das jetzt gesunde Kind zum Dauerpatienten, so Kestner.

Böses Wort der Zwangsimplantation

Vor Gericht dürfte nun ein Präzedenzfall geschaffen werden, möglicherweise mit Konsequenzen für alle gehörlosen Kinder in Deutschland, bei denen ein Cochlea-Implantat in Frage kommt. Denn im äußersten Fall kann das Gericht eine Operation des Jungen anordnen. Vergleichbares gab es bisher nur in Fällen, bei denen es um lebenserhaltende Therapien ging. In Trier beruft sich das Sozialamt bereits in einem ähnlichen Fall auf den Goslaer Rechtsstreit und hat das Jugendamt eingeschaltet. Das böse Wort der „Zwangsimplantation“ macht die Runde. Der Anwalt der Familie kündigte vorsorglich an, bei einer Entscheidung gegen die Eltern, die nächsten Instanzen anrufen zu wollen. Bis zu einem endgültigen Urteil könnten deshalb Jahre vergehen.

Wenngleich sich viele Beobachter einig sind, dass eine außergerichtliche Einigung mit den Eltern der bessere Weg gewesen wäre, wirft der Fall grundsätzliche medizinethische Fragen auf, die nun richterlich entschieden werden müssen: Gibt es ein Recht gehörloser Eltern, dass ihre Kinder auch gehörlos sind? Oder muss ein gehörloses Kind die Chance bekommen, hören zu können? Letztendlich geht es damit um die Frage, was pathologisch und was Vielfalt ist, meint der Tübinger Medizinethiker Prof. Urban Wiesing gegenüber der Ärzte Zeitung. In vielen Bereichen habe sich die Gesellschaft entschieden, quasi neue Schubladen zu öffnen und einst Abweichendes als eigene Lebensform zu akzeptieren.

Medizinethiker: „Was bewegt die Eltern?“

Medizinethikprofessor Georg Marckmann von der LMU München plädiert dafür, in erster Linie die Beweggründe der Eltern zu hinterfragen. Wollen sie ihre Prinzipien von einer homogenen gehörlosen Familie verteidigen oder steht das Wohl ihres Kindes an erster Stelle? Wenn auch diese Frage kaum mit letzter Sicherheit zu klären sei, so Marckmann gegenüber Spiegel Online, könne es ausschlaggebend sein, wenn die Eltern die Gegenargumente zumindest würdigen. „Dann ist das ein Zeichen, dass die Sorge um ihr Kind im Vordergrund steht.“

Die Braunschweiger HNO-Klinik rechtfertigt die Einschaltung der Behörden unterdessen mit der Pflicht zur Patientenaufklärung. Bei Minderjährigen sei man dazu verpflichtet, deren Eltern angemessen aufzuklären, wird Klinik-Geschäftsführer Andreas Goepfert im Nachrichtenmagazin Stern zitiert. „Wir wollten ausschließen, dass die Klinik sich in späteren Jahren eventuell Schadenersatzansprüchen seitens des dann volljährigen Patienten ausgesetzt sähe." Zu einer Operation habe man die Eltern keineswegs zwingen wollen.

Autor: Thomas Hahn

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